Wiederherstellung von Korallenriffen

Wenn Kunst und Wissenschaft sich einem Ziel verschreiben

  • Naturwissenschaften
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Episode 1

Wie alles begann

Jede berufliche Disziplin hat ihren eigenen Blickwinkel auf die Welt. Ich als Künstlerin neige dazu, viel zu beobachten, sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne. Ich versuche, das Wesen dessen zu erfassen, was mich umgibt. Dieser künstlerische Blickwinkel wird von vielen als eine Suche nach ästhetischer Essenz und Komposition verstanden, sozusagen als ein Streben nach der Poesie der Dinge. Doch aus meiner Sicht vermag Kunst mehr. Sie kann ein Katalysator für individuelles Handeln und gesellschaftliche Veränderung sein. Sie erreicht das, indem sie Artefakte schafft, die Menschen unterschiedlichster Hintergründe als Ankerpunkt für Kommunikation und Handlung dienen. Auch können sich Kunst und Naturwissenschaften auf diese Weise symbiotisch verbinden. Diese Geschichte ist mein Erfahrungsbericht. Schon früh faszinierte und inspirierte mich eine uns Menschen oftmals unbekannte Umgebung – ich nenne sie die «Unterwasserwelt».

Marie Griesmar, Künstlerin und Fellow des ETH Library Labs 2019

Alles begann, als ich im Jahr 2000 den Tauchsport entdeckte. Was für ein unbeschreibliches Gefühl, in dieser surrealen Umgebung kurzzeitig koexistieren zu können. Eine Leidenschaft war geboren. Ich begann, mich in meinem Schaffen mit dem Thema Wasserökologie in verschiedensten Gewässern auseinanderzusetzen. Im Jahr 2012 hatte ich ein tief greifendes Erlebnis. Ich war auf den Seychellen, um mich als Verantwortliche für Divemaster 1 zertifizieren zu lassen. Den Ort kannte ich von früher, aber ich erkannte ihn kaum wieder. Das Korallenriff wirkte trostlos. Ein Bleiche-Ereignis im Jahr 2011 hatte das einst so farbenfrohe und lebendige Ökosystem in ein abgestorbenes Riff verwandelt. Ein Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber der tiefen Missachtung submariner Ökosysteme wuchs in mir. Ich beschloss, so viel wie möglich über den Schutz von Korallenriffen zu lernen. Dieses Wissen wollte ich zur Schaffung wirkungsvoller Kunstwerke nutzen. Es musste schliesslich auch einen künstlerischen Weg geben, dem wissenschaftlich prognostiziertes Aussterben von Korallen bis zum Jahr 2050 entgegenzuwirken.

Eine grosse Bereicherung war die Zusammenarbeit mit Meeresbiologen, die auf die Erforschung von Genomen von Korallen spezialisiert sind. Während eines Aufenthalts am Reef Genomics Lab des Red Sea Research Center der King Abdullah Universität für Wissenschaft und Technologie in Saudi-Arabien konnte ich von ihnen viel lernen. Auf Basis dieser Erfahrung entwickle ich seit 2016 Strategien und Prototypen für das Projekt «Beneath The Sea, a New Form of Reef», das von submarinen Ökosystemen inspiriert ist. Besonders prägend war für mich auch ein Aufenthalt bei swissnex San Francisco als Fellow des Pier 17 Science Studio im Jahr 2018. Das Werk orientiert sich an der Form und strukturellen Funktionsweise eines Riffs. Es schafft eine neuartige «Architektur», die auf dem Meeresboden Korallen dazu einlädt, sich auf ihr anzusiedeln und zu wachsen. Ziel ist es, Lebensraum und Schutz für die wichtigen Meeresgemeinschaften zu bieten, die auf Korallenriffen zu Hause sind. Zentral ist hierbei für mich der Aspekt der Nachhaltigkeit der verwendeten Materialien und Herstellungsprozesse. Durch den Austausch mit Forschern aus verschiedenen internationalen Laboren und Institutionen wurde eines für mich immer deutlicher: Ich wollte meine bisherige, rein manuelle Arbeitsweise erweitern und Methoden der digitalen Fabrikation miteinbeziehen.

Marie Griesmar beim Zeichnen von Korallenriffen im Roten Meer 2017, © Ramona Marasco.

Im Jahr 2019 wurde ich Innovator Fellow am ETH Library Lab. Das Lab ist eine interdisziplinäre Initiative. Ihr Ziel ist die Förderung innovativer Ansätze zur Unterstützung offener Wissensökosysteme rund um Wissenschaft und Forschung. Hier konnte ich mich – unterstützt durch das Lab – dem Erlernen digitaler Fertigungsweisen widmen, mein Projektvorhaben weiter schärfen und mich mit Forschenden der ETH Zürich vernetzen. Es wurde eine spannende Reise. An ihrem Ende stand ein neuartiger Prototyp. In ihm manifestieren sich die Logik digitaler Herstellungsmethoden, die Eigenschaften ökologischer Materialien und der Einfluss der Wasserströmung auf die Ansiedlung von Korallenlarven. In den weiteren Kapiteln werde ich Einblicke in das Projekt geben. Als Nächstes berichte ich über die Schritte von der Handarbeit zur technischen Umsetzung.

Episode 2

Nachhaltigkeit und Skalierbarkeit

In Episode 1 berichtete Marie Griesmar bereits über die Idee und die Entstehung ihres Projekts «Beneath The Sea, a New Form of Reef». In dieser Episode 2 teilt sie ihre Erfahrungen zur Realisierung.

Im Idealfall betrachtet ein ökologisch verantwortungsvolles Projekt alle Komponenten der natürlichen Umwelt als miteinander verbunden. Diese sozusagen ethische Sichtweise prägt das gesamte Prozessdesign; nicht nur in seiner Entwicklung, sondern auch in seinem Herstellungsansatz und seiner Umsetzung. Bei jedem künstlerischen oder interdisziplinären Projekt, das ich umgesetzt habe, bin ich den Leitprinzipien gefolgt, die Natur zu respektieren und soziale Eigenschaften lokaler Gemeinschaften einzubeziehen. Das bedeutet auch, dass ich die Nutzung lokaler Ressourcen oder Biomassen anstrebe, wie z. B. Ton, natürliche Pigmente oder pflanzliche Grundstoffe aus der Region.

Mein Wiederherstellungsprojekt für Korallenriffe «Beneath The Sea, a New Form of Reef» befasst sich mit komplexen umwelttechnischen Anforderungen – insbesondere, da es in Unterwasserlebensräume eingreift, also dort, wo das Gleichgewicht zwischen den Organismen sehr fragil ist. Wenn ich Installationen unter Wasser durchführe, lege ich besonderen Wert darauf, dass Material oder Technologie nicht falsch eingesetzt werden. Um zum Beispiel eine störende oder stauende Wirkung innerhalb eines Ökosystems zu verhindern, begann ich, von Meeresbiologen zu lernen. Mein Ziel war es, herauszufinden, welche natürlichen Materialien am ehesten für meine gewünschten künstlerischen Strukturen geeignet sind. Ausserdem wollte ich wissen, welche Materialien sich über die Jahre am besten der Meereslandschaft anpassen und diesen Bedingungen standhalten.

Gebleichte Korallen auf den Malediven im Mai 2016, © The Ocean Agency/XL Catlin Seaview Survey

Steingut und insbesondere gebrannter Ton bieten ein einladendes Substrat, auf dem sich Korallen ansiedeln und wachsen können. Das liegt an der porösen Textur und der Alkalinität des Materials. Da ich die Vorteile dieser Eigenschaften kannte, begann ich, Unterwasserkunstwerke für Korallen aus Ton zu entwickeln. Meine ersten Skulpturen fertigte ich in Handarbeit an. Ich war mir aber auch der Tatsache bewusst, dass der Verlust der dreidimensionalen Struktur unter den Korallenriffen ein weltweites Problem ist. Auch mit ganzem Willen und all meiner Energie wäre meine Handarbeit niemals produktiv genug, um einen signifikanten Einfluss zu erzielen. An diesem Punkt habe ich angefangen, die Skalierung durch einen technischeren Herstellungsansatz in Betracht zu ziehen, nämlich durch den 3-D-Druck.

Aber wo sollte ich anfangen ohne Vorkenntnisse in diesem Bereich? Durch Zufall bin ich auf das ETH Library Lab gestossen. Es ist eine Innovationsinitiative der ETH-Bibliothek mit dem Ziel, wissenschaftliche Informationsinfrastrukturen und -services zukunftsorientiert weiterzuentwickeln. Mit der Aufnahme in ihr «Innovator Fellowship Program» begann im April 2019 eine ganz neue «Lernreise» für mich. Durch die Unterstützung des Labs erhielt ich innerhalb meines Projekts wissenschaftliche Betreuung der Forschungsgruppe Gramazio Kohler Research, die sich auf die Forschung zur digitalen Herstellung spezialisiert hat und bei der Weiterentwicklung neuer Herstellungsmethoden, die auch die Nachhaltigkeit erhöhen könnten, an vorderster Front steht.

Die Mission, zur Wiederherstellung von Korallenriffen beizutragen und dafür einen skalierbaren, digitalen Fertigungsprozess unter Verwendung von Naturmaterialien zu verwenden, überzeugte zudem die Schweizer Firma Bodmer Ton, uns zu unterstützen. Das Unternehmen ist auf die Gewinnung und Herstellung von lokalem Ton spezialisiert und kann als einer der vielen kleineren und besonders wertvollen Spezialisten hier in der Schweiz angesehen werden. Bodmer Ton spendete grosszügig eine Tonne Ton aus der Region Einsiedeln, was es uns ermöglichte, am Grundsatz festzuhalten, ausschliesslich mit lokalem und nachhaltigem Material zu arbeiten.

Die Künstlerin beschäftigt sich für ihr Projekt mit Materialien und deren Eigenschaften. Im Jahr 2019 besuchte sie ihren Sponsor Bodmer Ton in Einsiedeln, um zu sehen, wie der lokale Ton verarbeitet wird, © Roland Lanz für ETH Library Lab.
Für ihren Entwurf arbeitet Marie mit parametrischem Design und 3-D-Modellierung, © Roland Lanz für ETH Library Lab.

Parallel dazu hatte ich die Gelegenheit, mehr über wissenschaftliche Arbeitsabläufe in der digitalen Fabrikation zu erfahren, und zwar durch die Supervision von Forschenden von Gramazio Kohler Research. Aber es war auch eine schwierige Zeit, denn ich musste an allen Fronten Neues lernen: neues Vokabular, neue Hardware, neue Software, neue Designprinzipien. Mein grosses Interesse an der Kombination digitaler Herstellungsprozesse mit der Verwendung ökologisch nachhaltiger Materialien trieb mich jedoch immer wieder an. Und so machte ich schliesslich stets wieder einen nächsten Schritt und konnte geeignete Strukturen für die Wiederherstellung von Korallenriffen als Prototypen anfertigen.

Episode 3

Herausforderungen und interdisziplinäre Zusammenarbeit

In der dritten Episode berichtet Marie über die technischen Möglichkeiten, die Umsetzungsansätze und die interdisziplinäre Zusammenarbeit während der Realisierung eines so komplexen Projekts.

Der Sprung ins Ungewisse war eine grosse Herausforderung für mich. Einerseits, weil ich mir der verschiedenen Sichtweisen auf die Welt bewusster wurde. Jede wissenschaftliche Disziplin hat ihre eigene Perspektive, aus der sie auf bestimmte Herausforderungen schaut. Das war manchmal einschüchternd, weil mir dabei auch bewusst wurde, wie wenig ich eigentlich weiss. Auf der anderen Seite folgen digitale Fabrikationsprozesse einer für mich neuen Logik. Sowohl Herangehensweise als auch Ablauf werden stark von der verwendeten Hard- und Software bestimmt. Es entsteht eine weitere Ebene der Komplexität.

Um nicht die Orientierung zu verlieren, fokussierte ich auf drei Ziele, die ich für mein Projekt am ETH Library Lab gesteckt hatte:

  1. Das erste Ziel war die Beherrschung eines 3-D-Druck-Verfahrens unter Verwendung von Ton.
  2. Das zweite Ziel war das Anwenden und somit Verstehen von Prinzipien der digitalen Fabrikation, um mein Konzept der künstlichen Korallenriffe zu schärfen.
  3. Und das dritte Ziel bestand darin, einen Prototyp herzustellen, der unter Wasser getestet werden konnte.

Diskussion im Team des CCCC (Computational Clay Coral City), nach dem Bau eines mittelgrossen Riff-Prototypen am ITA, auf dem Campus ETH Zürich, Hönggerberg. Von links nach rechts: Mathias Bernhard, David Jenny, Eleni Skevaki, Nicolas Feihl, Jesús Medina.

Um das erste Ziel zu erreichen, musste ich eine Umgebung finden, in der ich üben und erste praktische Erfahrungen sammeln konnte. Da das ETH Library Lab nicht nur seine Projekte methodisch unterstützt, sondern auch die Prinzipien des Open Access verfolgt, stand für mich von vornherein fest, dass ich die aus diesem Lernprozess resultierenden Daten und Informationen teilen würde. Während des Projekts hatte ich die Möglichkeit, mit dem Material-Archiv, genauer gesagt mit der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) als einem seiner Mitglieder, zusammenzuarbeiten. Wie andere Organisationen im Netzwerk verfügt das Material-Archiv ebenfalls über eine Materialsammlung, für die ich Studien zum Druck auf Grundlage der Tonextrusion erstellt habe.

Prototypen aus Ton, die im Labors des IFU an der ETHZ getestet werden. Ein entscheidender Schritt vor dem Druck des endgültigen Demonstrators. Hier justieren Nicolas Feihl und Niccoló Moro die Tests.

Durch diese Studien war ich in der Lage, den Einfluss verschiedener Parameter und Einstellungen auf das Ergebnis des Druckprozesses aufzuzeigen. Während ich die Kapazitäten und Grenzen dieses Herstellungsansatzes testete, dokumentierte ich diesen Prozess auch für zukünftige Anwender des 3-D-Drucks mit Ton.

In der zweiten Phase bekam ich die Chance, von Forschern aus verschiedenen Disziplinen beraten zu werden und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Im April 2019 unterstützte mich die Gramazio & Kohler-Forschungsgruppe der ETH Zürich auf meinem Lernweg, indem sie mir Softwareanwendungen näher brachte und mir einen Arbeitsraum in ihrer Abteilung zur Verfügung stellte. Im Juli 2019 hatte ich die Gelegenheit, im Rahmen des MAS für Digitale Fabrikation an der ETH Zürich als Tutor für ein Masterprojekt mitzuarbeiten. Zusammen mit einem Meeresbiologen, Ingenieuren der Umweltströmungsmechanik und Architekten, die sich auf Roboter- und Computerentwurf spezialisiert haben, begleiteten wir zwei Studenten bei der Entwicklung einer nachhaltigen Methode für die Konstruktion künstlicher Riffe.

Das Projekt hiess «Computational Clay Coral City» (siehe auch Artikel «Beneath the Sea – a Multidisciplinary Journey. Part 3: Collaboration»). Die dort verwendete digitale Herstellungsmethode war die «Rapid Clay Formation». Meine Beteiligung war eine intensive und aufschlussreiche Lernerfahrung. Zwei Aspekte wurden mir hier bewusster, die für den zukünftigen Erfolg meines eigenen Projekts entscheidend sein würden: die Bedeutung der Oberflächenstruktur für die Ansiedlung von Korallenlarven und die Durchführbarkeit des gesamten Herstellungsprozesses.

Nach intensiven fünf Monaten war ich endlich so weit, meine eigene Fabrikationslogik zu definieren. Ich entschied mich für einen auf Extrusion 2 basierenden Ansatz der additiven Fertigung, Dieser ist hinsichtlich seiner technischen Umsetzung weniger komplex, als das Verfahren der schnellen Tonformung («Rapid Clay Formation»). Es dauerte jedoch weitere drei Monate, bis ich einen funktionsfähigen Prototyp hergestellt hatte. Für die Aspekte, bei denen ich auf fortgeschrittene Softwareprogrammierkenntnisse angewiesen war, arbeitete ich mit Jonas Ward Van den Bulcke zusammen, einem Absolventen des MAS-Programms der ETH Zürich in Digitaler Fertigung. Aus unserem Austausch und unseren Experimenten ging schliesslich eine robuste und modulare Lehmziegelstruktur hervor. Die Prototypziegel wurden mit unterschiedlichen Oberflächentexturen hergestellt. Bei späteren Unterwassertests konnten wir so eine entscheidende Frage beantworten: Welches Gesamtdesign stellt die beste Grundstruktur für künstliche Riffe dar.

Marie Griesmar zeigt die Sammlung von 3D-gedruckten Tonmodellen, die sie für das Materialarchiv entwickelt hat.
Mit verschiedenen Einstellungen lotete sie die Grenzen des Herstellungsprozesses aus.
Mit zwei Tonarten und drei Glasurarten schuf sie visuelle Hinweise für die Benutzer.
Episode 4

Entwerfen, Testen, Anpassen

In der vierten Episode gebe ich Einblick in die Art und Weise, wie wir die Prototypen getestet haben, welche Erfahrungen ich unter Wasser gemacht habe und was ich im Verlauf des gesamten Projekts gelernt habe.

Um herauszufinden, ob das Design eines Prototyps so funktioniert, wie man es sich vorgestellt hat, gibt es nur eine Methode: testen. Je weiter entwickelt ein Prototyp ist, desto ähnlicher sollte die Testumgebung den Praxisbedingungen im Idealfall sein. In einem sehr frühen Stadium meines Projekts ging es beim Testen zum Grossteil darum, in Gesprächen mit Experten aus verschiedenen Fachbereichen einfach meine Ideen und meine Vision zum Ausdruck zu bringen. Ihre Anmerkungen und Meinungen gestatteten es mir, Aspekte zu identifizieren, an die ich selbst nicht gedacht hatte.

Im nächsten Schritt wurden die ersten konkreten Ergebnisse in Form von physischen Objekten geschaffen, deren Geometrien – nach heutigen Standards – eher einfach waren. Indem ich diese Objekte anderen Personen zeigte, erwarb ich konkretere Einblicke in Zusatzfunktionen, die geformte Tonobjekte bieten. Beispielsweise erfuhr ich, dass sich die Struktur nicht nur als Substrat eignet, auf dem Korallen wachsen können, sondern auch Formationen bilden kann, ich denen sich Fische verstecken können. Als ich die ersten Testobjekte unter Wasser platzierte, wie ich es bei meinem Studienaufenthalt an der KAUST getan hatte, führte mir dies zudem die gewaltige Wirkung von Unterwasserströmungen vor Augen, die oft Formationen unter Sand begraben und sie beschädigen, indem sie sie mit sich reissen.

Zu Beginn meiner ersten Testphase während meines Stipendiums am ETH Library Lab befasste ich mich insbesondere mit Oberflächenstrukturen. Durch die Zusammenarbeit mit der Meeresbiologin Ulrike Pfreundt von der ETH verstand ich die Wichtigkeit und die Charakteristika von Mustern im Mikrobereich und Unebenheiten, die der Oberfläche meiner modularen Einheiten hinzugefügt werden konnten. Welche davon würden für die Ansiedlung von Korallenlarven den bestmöglichen Halt bieten? Um dies herauszufinden, wurde eine erste Testreihe unter Laborbedingungen durchgeführt, die von Forschern am ETH-Lehrstuhl Chair of Environmental Fluid Mechanics unterstützt wurde. In der Wasserrinne stellten wir verschiedene Prototypen unter Wasser auf und simulierten die Pfade von Korallenlarven mit 3 D-Technologie zur Geschwindigkeitsmessung beim Nachverfolgen von Partikeln. Dies bot erste Hinweise darauf, welche Oberflächenstrukturen am geeignetsten sein würden.

Und schliesslich testeten wir unter Praxisbedingungen. Dabei erhielt ich wertvolle Unterstützung von Experten für den Aufbau von neuen Korallenkulturen bei der Wiederherstellung von Korallenriffen. Wissenschaftler vom Marine Research and High Education Center (MaRHE), das der Università degli Studi di Milano-Bicocca angegliedert ist, gaben mir die Gelegenheit dazu, während der Teilnahme an einem Workshop zur Wiederherstellung von Korallen einen Feldversuch zu starten. Das MaRHE Center befindet sich auf den Malediven und arbeitet in Kooperation mit dem maledivischen Fischereiministerium. Sein Ziel ist es, Wissen darüber zu vermitteln, wie Meeresökosysteme und ihre Artenvielfalt geschützt werden können.

Am 8. Dezember hiess das MaRHE Center mich und einhundert Tonziegel-Prototypen willkommen. Die folgenden zwei Wochen bedeuteten harte Arbeit. Tagsüber lernte ich, wie Baumschulen für Korallen aufzubauen sind. Abends wandte ich das Gelernte auf mein Projekt an und montierte Rahmen, um die Ton-Prototypen zu platzieren. Zum Schlafen blieb nicht viel Zeit. Ich konnte jedoch mit Ulrike Pfreundt zusammenarbeiten, die auch an dem Workshop teilnahm. Diese Teamarbeit war ausserordentlich motivierend. Seither haben wir beschlossen, unsere Bemühungen zu bündeln und durch die Gründung unserer eigenen gemeinnützigen Organisation Korallenriffe zu schützen und zu retten.

Zudem brachten Wissenschaftler vom MaRHE Center mir bei, wo und wie die Rahmen am besten unter Wasser zu platzieren sind, um relevante Beobachtungen zu erhalten. Sie stimmten auch Tests unter verschiedenen Bedingungen zu, einschliesslich verschiedener Wassertiefen, Strömungsstärken und -richtungen sowie Entfernungen zur Küste. Und schliesslich installierte ich mit ihrer Hilfe dann all diese Rahmen unter Wasser. Ich mache diese Arbeit sehr gerne, da man nicht nur Geschick beim Tauchen zeigen, sondern auch manuelle Arbeitstechniken an eine sich verändernde Umgebung anpassen muss.

In den nächsten Wochen und Monaten wurden die Rahmen mit den Prototypen beobachtet und Ansiedlungen dokumentiert. Nur einen Monat später war die Entwicklung von krustenbildenden Korallenalgen zu beobachten, einem gesunden Biofilm, der für die Ansiedlung von Larven von zentraler Wichtigkeit ist.

Marie Griesmar mit fertigen Prototypen auf den Malediven.
Marie Griesmar mit fertigen Prototypen auf den Malediven.
Gestell mit Prototypen Unterwasser, © L. Tazi.
Gestell mit Prototypen Unterwasser, © L. Tazi.
Prototyp mit krustenbildenden Korallenalgen in den Malediven, © Inga Dehner.
Prototyp mit krustenbildenden Korallenalgen in den Malediven, © Inga Dehner.

Zudem konnte ich meinen Prototyp in ein Minimal Viable Product überführen: ein legoähnliches System aus Ton, das sich einfacher vor Ort produzieren, transportieren und implementieren lässt. Einige dieser Prototypen wurden als Referenzobjekte in das Material-Archiv der ZHdK und den ETH Material Hub aufgenommen und können dort in Augenschein genommen werden.

Episode 5

Relevanz für wissenschaftliche Bibliotheken

Weshalb sind diese Erkenntnisse für wissenschaftliche Bibliotheken interessant? In der fünften und letzten Folge meines Berichts geht es um die Relevanz meines Projekts für akademische Bibliotheken.

Wenn man die ersten vier Episoden verfolgt hat, ist sicherlich aufgefallen, dass mein Projekt in einem eher ungewöhnlichen Rahmen gefördert wurde – einer Bibliothek. Normalerweise gelten Bibliotheken als ruhige, institutionalisierte Räume, in denen sich alles um den Zugang zu Wissen dreht. Während meines Projekts war dann auch eine wissenschaftliche Bibliothek die wichtigste Quelle für validiertes Wissen.

Doch als ich mit den ersten Versuchen begann, Rohmaterial zu verarbeiten und praktische Verfahren wie den 3-D-Druck einzusetzen, war eine herkömmliche Bibliothek sicherlich nicht das naheliegende Umfeld dafür. Ich begann wissenschaftliche Erkenntnisse aus diversen Fachbereichen zusammenzutragen und neues Anwendungswissen aufzubauen. Dieses Know-how wollte ich in meine konkrete Fragestellung einfliessen lassen. Eine dafür geeignete Infrastruktur, um dieses Wissen zu erfassen und interdisziplinären Kooperationspartnern zugänglich zu machen, gab es leider nicht.

Was wäre aber, wenn mithilfe einer Bibliothek die Barrieren zwischen Technologie, unterschiedlichen Standorten und Expertise überwunden werden könnten? Wenn Bibliotheken auf ganz neue Weise den Wissenstransfer erleichterten und durch die entsprechende Infrastruktur unterstützten und dabei digitales, physisches und soziales Lernen förderten? Das ETH Library Lab mit seiner Mission, das Fundament unserer Wissensgesellschaft zu stärken, sucht seinesgleichen. Es wählte mein Projekt «Beneath the Sea», um bestehende Informationsbarrieren in der interdisziplinären Forschung und neue infrastrukturbezogene Anforderungen einer technologiebasierten, anwendungsorientierten wissenschaftlichen Praxis beispielhaft aufzuzeigen. Teil dieser Initiative zu sein, war für mich Herausforderung und Motivation zugleich, ganz besonders durch meinen künstlerischen Hintergrund.

Das ETH Library Lab gab mir die Möglichkeit herauszufinden, wie der Bau eines künstlichen Riffs und digitale Fabrikationsverfahren kombiniert werden können. Dadurch hatte ich die einmalige Chance, mich aktiv an Lernprozessen zu beteiligen, die nicht in schriftlicher Form vorliegen würden. In diesem Rahmen war ich gezwungen, ein ganzheitliches Verständnis von 3-D-Tondruckverfahren zu entwickeln. Ich wurde Teil eines interdisziplinären Projekts zum Thema digitale Fabrikation und konnte Prototypen herstellen, testen und meine eigene Arbeit mit wissenschaftlicher Stringenz umsetzen. Dies war eine ebenso fantastische wie seltene Chance.

Vor dem Transport nach Kolumbien muss das rrreefs-System unter realen Bedingungen geprüft und getestet werden, um eine erfolgreiche Installation zu gewährleisten. © Andre Fahrni/TSK Zürich
Vor dem Transport nach Kolumbien muss das rrreefs-System unter realen Bedingungen geprüft und getestet werden, um eine erfolgreiche Installation zu gewährleisten. © Andre Fahrni/TSK Zürich
Für den Test haben wir im Zürichsee unter Wasser eine ganze rrreefs-Struktur installiert. © Andre Fahrni/TSK Zürich
Für den Test haben wir im Zürichsee unter Wasser eine ganze rrreefs-Struktur installiert. © Andre Fahrni/TSK Zürich
Detailaufnahme der Tonprototypen während der Installation unter Wasser. © Marie Griesmar/rrreefs
Detailaufnahme der Tonprototypen während der Installation unter Wasser. © Marie Griesmar/rrreefs

Ich habe es sehr genossen, Teil dieses innovativen Umfelds zu sein, das Innovator Fellows dazu ermutigt, über die eigenen Grenzen hinauszuwachsen, zweckmässige Lösungen zu entwickeln und institutionsübergreifend Brücken zu bauen.

Fertig produzierte Tonprototypen. © Marie Griesmar/rrreefs
Fertig produzierte Tonprototypen. © Marie Griesmar/rrreefs

So war meine Zeit im ETH Library Lab nicht nur inspirierend, sondern auch fruchtbar. Aus «Beneath the Sea» ging die Organisation rrreefs hervor, die ich gemeinsam mit der Meeresbiologin Dr. Ulrike Pfreundt gegründet habe. Die Website zeigt, wir arbeiten weiterhin mit Jonas Ward Van den Bulcke zusammen, der uns bei der Programmierung der entwickelten Strukturen aus Ton half. Wir werden die Tonstrukturen nun weiter zu optimieren und sie auf der ganzen Welt zugänglich zu machen. Mein Studio befindet sich nur zwei Minuten vom ETH Library Lab entfernt. Dort drucke ich noch immer Tonbausteine mit unterschiedlichen Strukturen, die Korallen und anderen Meeresorganismen einen geeigneten Lebensraum bieten. Auch wenn ich nicht mehr Teil des ETH Library Lab bin, prägen meine dortigen Erfahrungen noch immer, wie ich arbeite, lerne und neues Wissen integriere.

Unsere Aktivitäten können auf anderen Plattformen weiter verfolgt werden, z.B. wie die Ausstellungen im Gewerbemuseum Winterthur oder im CAN Centre d’art Neuchâtel, auf unserer Website rrreefs oder über unseren Instagram-Account.

Die im Gewerbemuseum Winterthur ausgestellten Tonstrukturen und ein erläuterndes Video zeigen, wie mithilfe dieses interdisziplinären Projekts Korallenriffe in Tropengewässern erhalten bleiben. © Marie Griesmar/rrreefs
Die im Gewerbemuseum Winterthur ausgestellten Tonstrukturen und ein erläuterndes Video zeigen, wie mithilfe dieses interdisziplinären Projekts Korallenriffe in Tropengewässern erhalten bleiben. © Marie Griesmar/rrreefs

Dort erfährt man, wie wir unser Vorhaben vorantreiben, gefährdete Korallenriffe wiederherzustellen und eine ganze Community von Spezialisten für das 3-D-Tondruckverfahren aufzubauen. Man erhält zudem regelmässig aktuelle Informationen über Kooperationsprojekte. Beispielsweise berichten wir darüber, wie Korallenlarven an kleinen Tonstrukturen im MaRHE Center auf den Malediven wachsen.

Angesiedelte Korallen wachsen an den Strukturen aus dem 3-D-Druck. Abbildung von Mitarbeitenden des MaRHE Centre auf den Malediven, April 2021. © MaRHE
Angesiedelte Korallen wachsen an den Strukturen aus dem 3-D-Druck. Abbildung von Mitarbeitenden des MaRHE Centre auf den Malediven, April 2021. © MaRHE

Vielen Dank für das Interesse an meiner Geschichte!

Fussnoten

  1. Ein Tauchzertifikat als Verantwortlicher für Unterwasser-Tauchexpeditionen ↩︎
  2. Der Ton wird über eine Düse in Form gebracht. ↩︎

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